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Susanne Kriemann (*1972) befasst sich in ihrer künstlerischen Praxis mit radioaktiver Strahlung und den Auswirkungen der Zivilisation auf die Natur. Unter dem Titel Fotografie neu ordnen: Gestrüpp stellt die Künstlerin zwei Werkkomplexe vor und setzt diese in Dialog mit historischen Fotografien und Drucken aus der Sammlung des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg (MK&G). In ihrer Arbeit Gessenwiese, Kanigsberg (2017–2020) versucht sie, die Radioaktivität kontaminierter Pflanzen zu erfassen und nutzt dazu neben der Fotografie auch historische Druckverfahren wie die Heliogravüre. Das dafür benötigte Pigment gewinnt sie aus den betroffenen Pflanzen selbst und macht die Radioaktivität so zum physischen Element ihrer Bilder. Ein installativer Aufbau von Pflanzenproben gibt zudem Einblick in die Entstehung ihrer Heliogravüren. Für die zweite Serie Mngrv (2018–2020), die eigens für die Schau entsteht, ließ sich Susanne Kriemann von den so genannten Naturselbstdrucken der Botaniker Constantin von Ettingshausen (1826–1897) und Alois Pokorny (1826–1886) inspirieren: Sie erstellt Drucke nach fotografischen Vorlagen von Mangrovenpflanzen, i n die sie Teile und Strukturen von Plastikmüll eindruckt, den sie in den Mangrovenwäldern in Süd- und Südostasien sammelte. Ihre beiden Serien ergänzt Susanne Kriemann um etwa 40 Arbeiten aus der Sammlung Fotografie des MK&G und stellt damit eine Verbindung her zu den historischen Drucktechniken. Ihre intuitive Auswahl von Heliogravüren, Pigment- und Naturselbstdrucken ist geleitet von Motiven des Gestrüpps. Sie stammen von Künstler*innen wie Annie W. Brigman (1869–1950), Clarence Hudson White (1871–1925), Gertrude Käsebier (1852–1934), Alice Boughton (1867–1943), Oscar (1871–1937) und Theodor Hofmeister (1868–1943) oder Heinrich Kühn (1866–1944).
Seit 2017 begleitet Susanne Kriemann für ihre Arbeit Gessenwiese, Kanigsberg (2017–2020) Biolog*innen und Geolog*innen der Universität Jena, die die Renaturierung des ehemaligen Uranerz-Abbaugebiets der SDAG Wismut (Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut) im Erzgebirge erforschen. Dort wurde von 1949 bis 1990 hochradioaktives Uranerz abgebaut – die DDR war in diesem Zeitraum der viertgrößte Uranproduzent der Welt. Heute ist das Erdreich stark mit Schwermetallen belastet und man muss nicht nach Fukushima schauen, um die schleichenden Langzeitfolgen von Radioaktivität in kontaminierten Landschaften zu erfahren. Für ihre künstlerische Forschung nutzt Susanne Kriemann die Fotografie – ein Medium, das traditionellerweise immer mit einer exakten Aufzeichnung assoziiert wurde. Bei der Erfassung kontaminierter Pflanzen gerät sie jedoch an die Grenzen des Abbildbaren: Die von Wissenschaftler*innen gemessene Strahlung bleibt in der Fotografie für das Auge unsichtbar. Um die Radioaktivität dennoch ins Bild einschreiben zu können, erntet Kriemann einzelne von ihr abgelichtete Pflanzen und verarbeitet sie zu verschiedenfarbigen Pigmenten für den Druck ihrer Heliogravüren. Das Zurückgreifen auf dieses nicht mehr praktizierte fotomechanische Edeldruckverfahren aus dem 19. Jahrhundert bietet Kriemann die Möglichkeit, die Gewächse zu Material, zu unmittelbaren Bestandteilen ihrer Werke werden zu lassen.
In ihrer Arbeit Mngrv (2020) über Mangrovenwälder in Trincomalee (Sri Lanka), Pulau Ubin (Singapur) und Panduang-Bintan (Indonesien) greift sie auf die Technik des Naturdrucks zurück, die die Botaniker Constantin von Ettingshausen und Alois Pokorny im 19. Jahrhundert erfanden. In ihrem umfangreichen naturkundlichen Mappenwerk über die Vegetation Österreichs (1856) nutzten sie ein spezielles Druckverfahren, das die Blattnerven und Blattskelette getrockneter Pflanzen reliefartig und farbig abbildet. Die Ergebnisse faszinieren in ihrer beeindruckenden Präzision und einzigartigen haptischen Qualität. „Ein Abdruck, dem Originale identisch gleich“, wie es der botanische Illustrator und Drucker Alois Auer 1853 beschrieb. Auch hier zeigt sich Kriemann von einer Technik inspiriert, die im 19. Jahrhundert – ebenso wie die Fotografie – im Dienst der Wissenschaft stand. Mit ihrem Interesse, die Verwebung der Mangrovenwälder mit von Menschen weggeworfenen Plastikwertstoffen zum Thema ihrer künstlerischen Forschung zu machen, knüpft sie an das Bestreben ihrer Vorgänger an, Veränderungen der Natur zu dokumentieren. Für ihre Arbeiten nutzt sie fotografische Vorlagen – etwa Abbildungsmaterial der Botanik aus historischen Lexika – sowie aktuelle eigene Aufnahmen von Mangrovenwäldern. Diese überdruckt sie u.a. mit Strohhalmen, Netzen und Badeslippern, die sie mittels Pigmenten aufbringt, welche sie aus dort gefundenen Erdölresten gewinnt. So schreibt sie die Zivilisationsreste nicht nur als Struktur, sondern auch als Material in ihre Fotografien ein.
Susanne Kriemann ist seit 2017 Professorin für künstlerische Fotografie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Sie arbeitet recherchebasiert und beschäftigt sich mit den technischen Voraussetzungen und historischen Bedingungen der Herstellung von Fotografien. Ihre Arbeiten wurden u. a. im CCA Wattis Institute for Contemporary Arts, San Francisco (2018), Schering Stiftung Berlin (2016), Belvedere 21, Wien (2013), Kunstverein Braunschweig (2012) gezeigt.
Im Rahmen der Ausstellungsreihe Fotografie neu ordnen lädt das MK&G seit 2017 Künstler*innen, Fotograf*innen und Wissenschaftler*innen ein, mit der Sammlung Fotografie und neue Medien im MK&G zu arbeiten und diese in Bezug zu ihren eigenen Werken oder Projekten zu setzen. Eingeladen waren u.a. Hans Hansen, Jochen Lempert & Peter Piller, Katja Stuke & Oliver Sieber, Reinhard Matz, Steffen Siegel und Bernd Stiegler.