Die norwegische Violinistin Ragnhild Hemsing hat bei ihren bisherigen Programmen immer wieder alte, norwegische Traditionen einfließen lassen. Das liegt vor allem daran, dass sie eben nicht nur die moderne Violine spielt, sondern auch die traditionelle Hardangerfiedel. Ragnhild Hemsing ist somit nicht nur eine Interpretin und Vertreterin der norwegischen Musiktradition, sondern bewahrt diese und führt sie in die Moderne. Passend zur Winterzeit taucht sie mit ihrem Programm »Vetra« tief in die musikalische Tradition ihrer Heimatregion Valdres ein. Dabei ist der Winter in allen Werken das zentrale Thema. Das Wort »Vetra« entstammt dem Dialekt, der im Valdres gesprochen wird und bedeutet Winter. Außerdem hat sie hervorragende Mitmusiker um sich versammelt, die ebenfalls alle sehr vertraut mit der norwegischen Musikgeschichte sind.
Manche Volksmelodien sind alt, sehr alt sogar. Früher wurden Melodien und vor allem Kirchenlieder immer nur von Mund zu Mund weitergegeben. Vieles ging verloren, manches wurde immer wieder verändert. Die norwegische Volksliedtradition hat eine sehr lange Geschichte und vieles wurde bis heute bewahrt und überliefert. Dies ist vor allem dem Komponisten und Wissenschaftler Ludvig Mathias Lindeman zu verdanken. Er lebte in Norwegen von 1812 bis 1887 und bereiste die verschiedenen Täler und Regionen – immer auf der Suche nach Mythen und Sagen, Melodien und Versen. Er brachte eine zwölfbändige Volksliedsammlung unter dem Titel »Ældre og nyere norske Fjeldmelodier« heraus. Im Jahr 1884 kam Lindeman auch in die Region Valdres und erfasste dort 86 Kirchenlieder und 83 weitere Melodien. In Norwegen werden diese Volksmelodien, Lieder und Tänze als »Slåtter« bezeichnet. Es sind vor allem die Überlieferungen ihrer Heimat, aus denen sich Ragnhild Hemsing für ihr Programm »Vetra« bedient hat.
Dazu kommen ausgewählte Volksmelodien, die ihren Ursprung in Kirchenliedern haben. Insbesondere bei Kirchenliedern ist die Überlieferung nicht immer eindeutig. Meist war nur der gesungene Text notiert, aber nicht die Melodie. So entwickelten sich oft zum selben Text ganz verschiedene Spielweisen. Dank Ludvig M. Lindeman wurden viele Weisen endlich aufgeschrieben und festgehalten. So hörte und notierte er auf seiner Reise z.B. die Melodie zu »Das achte Gebot vom Sinai« (Det ottande bud på Sinai), gespielt vom Fiddler Anders Nilsen Pelesteinsbakken aus Hedalen, dem Ur-Ur-Ur Großvater von Ragnhild Hemsing. Eine spannende Entwicklung am Rande: Später entlieh Edvard Grieg diese Melodie und verwendete sie in seiner Ballade g-Moll op. 24, und der ebenfalls in Valdres geborene Komponist Sigurd Islandsmoen verwendete sie in seinem Chorwerk Requiem op. 42. So konnten viele Traditionen bewahrt und weiterentwickelt werden.
Obendrein hat Ragnhild Hemsing ebenfalls drei Slåtter neu komponiert und wird sie nun in der Elbphilharmonie spielen: »Vetrahalling«, »Bånsull« und »Vinterstemning«. Damit reiht sie sich in die große Gruppe von Musiker:innen und Komponist:innen ein, die neue Wege beschreiten und neue Horizonte eröffnen. »Für mich war dies eine spannende musikalische Reise, bei der die Melodien künstlerisch überarbeitet wurden. Diese Überarbeitung unseres unschätzbaren Erbes ist ein völlig neues Unterfangen.«
Für dieses Programm hat sich Ragnhild Hemsing drei Freunde und absolute Größen der norwegischen Volkslied- und Jazztradition an die Seite geholt: den bekannten Jazztrompeter Arve Henriksen, den Kontrabassisten Steinar Raknes, der schon mit Größen wie Chick Corea oder Bobby McFerrin gearbeitet hat, sowie den Multi-Percussionisten Terje Isungset, der auf allen erdenklichen Natur-Instrumenten spielt, und sogar oft seine Instrumente aus Gletscher-Eis selbst herstellt.
BESETZUNG
Ragnhild Hemsing violin, Hardanger fiddle
Arve Henriksen trumpet
Steinar Raknes double bass
Terje Isungset percussion
PROGRAMM
»VETRA – My Norwegian Winter«