Jahre bevor August Strindberg in nur knapp 20 Tagen „Fräulein Julie“ niederschrieb, war er auf einen Zeitungsartikel gestoßen, der sich ihm einprägte. Er handelte von einer skandalösen Affäre einer adligen Dame mit einem Knecht. Spekulationen darüber, welche künstlerischen und persönlichen Motive ihn im Sommer 1888 zur Bearbeitung dieses Stoffes bewegt haben mögen, füllen heute Bibliotheken. Unstrittig ist die fast archetypische Kontrastierung der sozialen Sphären und der Kampf der Geschlechter, die Strindberg hier auf eine seine Zeitgenossen schockierende Weise gestaltet.
Die beiden Hauptpersonen lässt Strindberg in der erotisch aufgeladenen Stimmung des Mittsommerfestes aufeinandertreffen. Julie, die Tochter des Gutsbesitzers, hat sich unter das feiernde Landvolk gemischt, da sie ihren Vater nicht zu den Festen auf den Nachbargütern begleiten kann, denn sie hat soeben ihrem Verlobten den Laufpass gegeben und scheut die Fragen ihrer Standesgenossen. Und auch Jean, der Diener ihres Vaters, fühlt sich aufgrund der Abwesenheit seines Herren von seiner angestammten Rolle befreit. Julie ist übermütig und ausgelassen und fordert Jean zum Tanz auf. Sie kommen sich näher, Julie macht Jean Avancen, flirtet und kokettiert, provoziert ihn, wechselt sprunghaft zwischen Schmeicheleien und Herabwürdigungen, lockt ihn und weist ihn im nächsten Augenblick mit beleidigender Geringschätzung in seine Schranken zurück. Jean, der den Tratsch der Leute ebenso wie den Zorn seines Herrn fürchtet, reagiert zunächst abweisend, warnt das Fräulein vor den Konsequenzen ihres aufreizenden Verhaltens, aber fühlt sich geschmeichelt und von ihr angezogen. Letztlich kann er der immer zudringlicher werdenden Julie nicht widerstehen und es kommt zum Äußersten. Unmittelbar darauf lässt Jean die Maske des charmanten Galans fallen und zeigt sein brutales, berechnendes Wesen. Julie, wie unter Schock, begreift die Tragweite ihres Handelns erst allmählich: Zwar bietet Jean ihr einen Ausweg an, indem er versucht, sie zur gemeinsamen Flucht zu bewegen, da er jedoch völlig mittellos ist, muss Julie das Geld dazu beschaffen. Der Diebstahl an ihrem Vater zwingt sie, der unerbittlichen Wahrheit ihrer vollkommenen Niederlage ins Gesicht zu sehen.
Liebe und Macht, Selbstbehauptung und Unterwerfung, sozialer Status, Rollenerwartungen und deren Überschreitung: Mit kühler Präzision seziert August Strindberg in „Fräulein Julie“ die Komplexität und die Antagonismen der Geschlechterverhältnisse. In einer eigenen Textfassung sind Judith Rosmair als Fräulein Julie und Dominique Horwitz als Diener Jean in der Regie von Torsten Fischer zu erleben.