Das Urteil [14+]
Ein junger Mann geht zielstrebig die Straße entlang Richtung Brücke, er klettert über das Geländer, ein Bus fährt vorbei. Er nutzt den Moment des Lärms, der sich über der Straße ausbreitet, und springt. Ob er ertrunken ist oder sich an das Ufer retten konnte, davon wissen wir nichts. Was wir wissen, ist, was dem Entschluss voranging. Georg Bendemanns Tag startet mit einem Vorhaben, das er bis dahin immer wieder infrage stellte. Doch heute ist der Tag gekommen, es zu realisieren. Er schreibt seinem glücklosen Freund in St. Petersburg einen Brief über das eigene Glück. Oft hat er gezweifelt, ob dem anderen das eigene gelingende Leben missfallen oder sogar kränken könnte, doch muss ein Freund nicht den Erfolg des andern genauso genießen, wie er selbst? Georg ist entschlossen und will nur kurz den Vater noch ins Vertrauen ziehen, da hebt dieser die Welt aus den Angeln. Der Vater demontiert voller Boshaftigkeit das Leben des Sohnes, bis er ein brutales Urteil fällt: "Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! – Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!"
Kafka schreibt »Das Urteil« in einer einzigen Nacht nieder. „Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.“ Schlicht, knapp und schnörkellos entfaltet Kafka das Unerhörte. Er unterwirft seinen Helden auf wenigen Seiten den Mühen des Menschseins und kündigt die Verlässlichkeit und Kausalität der Welt auf. Gemeinsam mit Georg Bendemann stehen wir vor den unglaublichen Varianten, die das Dasein in schöner und grausamer Weise bereithält.
Clara Weyde wird Kafkas frühe Erzählung inszenieren. In der vorangegangenen Spielzeit führte sie am Jungen SchauSpielHaus bei »Ein Sommernachtstraum« Regie. Sie arbeitet unter anderem am Schauspiel Dresden, Theater Bonn und dem Schauspiel Hannover. 2016 erhielt sie den Theaterpreis Hamburg – Rolf Mares.
Foto: Sinje Hasheider