Portraitkonzert Clemens von Reusner
Alle Werke sind im Original 8-kanalig, Spatialisierung: Ambisonic
Im Konzert 4-kanalige Aufführung
Werkkommentare
1. play sequence (2019), 12:41
"play sequence" entstand 2019 als Auftragswerk für das Festival "MusiKKirche" im wendländischen Restorf und basiert auf den Klängen eines Cembalos. Zahlreiche Klänge wurden in einer erweiterten Spielpraxis erzeugt und digital aufgezeichnet. Nach Sichtung, Schnitt und klanglicher Bearbeitung bildeten dann mehrere hundert Einzelklänge die Grundlage für die Komposition.
Neben den bekannten Klängen des Cembalos offenbart das Mikrofon auch die Geräuschkomponenten bei der Klangerzeugung durch die mechanischen Abläufe beim Anschlagen einer Taste. Diese Geräusche des Spiels und der mechanischen Vorgänge treten beim Cembalo deutlich stärker in Erscheinung als beim Klavier. Die Komposition hebt diese Geräuschkomponenten hervor und arbeitet mit der ihnen eigenen Beschaffenheit und Qualität.
So wird der Fokus erweitert von einem Musikinstrument mit einer spezifisch metallischen Klangfarbe, das vor allem in der Musik des Barock von Bedeutung ist, zu einer Musikmaschine mit ihren eigenen mechanischen Möglichkeiten.
Durch die Vielzahl der hier eingesetzten klangerzeugenden Verfahren und klanglichen Bearbeitungen kommt es zu einer multiperspektivischen, quasi
"kubistischen" Darstellung des Cembaloklanges. Dieser stellt sich auf diese Weise im Spiel von Nähe und Distanz in unterschiedlich weiten und engen akustischen Räumen immer wieder neu dar.
2. Salix (2020), 06:09
"Salix" geht zurück auf eine kurze akustische Beobachtung von Zweigen und Blättern eines sehr alten Exemplars einer "Salix Alba Tristis" aus der Familie der Weidengewächse (Salicaceae) im Frühjahr 2020. Jene wurden durch einen aufkommenden Wind leicht bewegt. Diese Bewegungen, die Stamm, Äste und das dichte Laub in unterschiedlicher Weise erfasst, werden ebenso wie das lebenspendende und immer knapper werdende Wasser in ihnen zu klanglichen Gesten und Texturen.
Die strukturelle Beschaffenheit dieser Klänge führt zu spektralen und zeitlichen Varianten, die im Verlauf des Stückes mit den Mitteln des elektronischen Studios klanglich entwickelt werden. Formale Proportionen werden deutlich in den Einsatzabständen markanter Klänge nach Maßgabe des goldenen Schnitts.
Nicht allein dieser mächtige Baum, sondern auch alle anderen Lebewesen in der Natur und die Erde, die sie trägt, bedürfen heute im Jahr 2020 wie auch in der Zukunft mehr als jemals zuvor unserer Fürsorge und des achtsamen Umgangs mit ihnen.
3. Ideale Landschaft Nr. 6 (2020), 11:12
"Ideale Landschaft Nr. 6" ist inspiriert von einer Radierung des Künstlers Ernst von Hopffgarten. Diese ist das 6. Blatt seines "Zyklus in G", welches keinen eigenen Titel trägt.
Obschon es in der Komposition nicht um die "Vertonung" einer grafischen Vorlage geht, so finden sich doch strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen beiden Werken.
Das Klangmaterial sind abstrakte, mit dem Synthesizer erzeugte, bzw. mit Csound, einer Programmiersprache für Klangsynthese, berechnete Klänge, die durch additive und subtraktive Klangsynthese entstanden sind.
4. Anamorphosis (2018), 7:19
In Anamorphosis geht es um die Darstellung und Verarbeitung zweier kontrastierender Strukturen, die im ersten Teil der Komposition exponiert werden. Die eine hat einen mehr gestischen Character, die andere ist mehr flächig-texturhaft. Beide Strukturen gründen auf einem kurzen Klang einer hölzernen Tür, der allerdings in einen ursprünglichen Gestalt in der Komposition nicht erscheint. Die strukturelle Beschaffenheit dieses Klanges, vor allem die schnelle Folge kurzer, sich in der Zeit verändernder Repetitionen, führt zu den spektralen und zeitlichen Varianten dieser Strukturen, die im zweiten und dritten, stärker reprisenhaften Teil klanglich entwickelt werden.
5. KRENE (2021), 21:47
Das Motto der "Sommerlichen Musiktage Hitzacker 2021" lautete "Schubert.JETZT". Hierzu ist ein weiteres elektroakustisches Auftragswerk für das Festival entstanden, das den Titel "KRENE" trägt. "KRENE" (altgr.) bedeutet so viel wie Quelle oder Brunnen.
Und die Quelle meiner Beobachtung, meiner Annäherung an Schuberts Werk ist seine letzte Klaviersonate in B-Dur, Deutsch-Verzeichnis 960. Doch womit setze ich mich auseinander? Die große zeitliche Distanz zu Schuberts Sonate von fast 200 Jahren ist mir sehr präsent und diese erscheint fern, unscharf wie flimmerndes Licht an einem heißen Tag.
Und was ist eigentlich das Werk? Ist es der Notentext als eine Verfahrensvorschrift zu Realisierung des Klanges und damit ein Angebot, das interpretiert, ausgelegt werden kann? Sind es die zahllosen Einspielungen, welche die Unterschiedlichkeit dieser Auslegungen belegen und in denen diese Sonate ein Mal knapp 40 Minuten, ein anderes Mal eine Stunde dauert? Ist es schließlich der Klang des Klaviers selbst, der Klang einer gespannten, angeschlagenen Saite?
Über Franz Schuberts Werk wurde einmal gesagt, es sei "weniger eine Verarbeitung thematischer Gebilde als eine Geschichte von klanglichen Vorgängen, von Klangprozessen, wo einer aus dem andern hervorgeht."
Hier gibt es eine starke Verbindung zu heutigem kompositorischen Denken in der elektroakustischen Musik. An den „klanglichen Vorgängen“ kann ich ansetzen, die komponierte Veränderung von Klang über die Grenzen der Farbe des Instruments oder der Spieltechnik des Interpreten hinaus interessiert mich. Den historischen Abstand zum Original will und kann ich nicht einebnen, vielmehr nähere ich mich Schuberts Sonate unter zwei ihr eingeschriebenen Perspektiven: Zum einen richte ich meinen Blick auf Schuberts ganz eigene Umgangsweise mit der Sonatenform, auf immer wieder überraschende Brüche und Abweichungen innerhalb der formalen Proportionen. Zum anderen nähere ich mich mit den Mitteln des elektronischen Studios den Klangspektren in der metallischen Farbe des Klavierklangs.
Klänge bewegen sich dabei auf individuellen Bewegungsbahnen durch offene und weite aber auch enge akustische Räume. Sie treten so zueinander in Beziehung und klangliche Gesten und Texturen werden als komponierte räumliche Kontrapunkte hörbar.
All dies geschieht sowohl in einem Prozess der Annäherung als auch in einem gegenläufigen Prozess der Entfernung und Abstraktion. Denn dieser Prozess besteht nicht in der bloßen Wiedergabe des Bekannten, der bloßen Reproduktion eines Motivs in seinem zeitlichen Verlauf. Er besteht in größter Abstraktion auch im Anhalten des Zeitverlaufs an einem bestimmten Punkt und in der Verlängerung dieses kürzesten Punktes in den hörbaren Bereich hinein wie mit einer Klanglupe. Er besteht im Fortschreiten dieses Weges in andere Richtungen und der Rückkehr zum schon Gehörten – Schuberts Sonate scharf und klar im Fokus und doch uneinholbar fern.
Kurzbiographie
Clemens von Reusner, Jahrgang 1957, Komponist. Er studierte Musikwissenschaft und Musikpädagogik sowie Schlagzeug bei Abbey Rader und Peter Giger. Seit Ende der 1970er-Jahre setzt er sich mit elektroakustischer Musik, radiophonen Hörstücken und Soundscape-Kompositionen auseinander. Im Zentrum seiner Arbeiten stehen gleichermaßen rein elektronisch erzeugte, wie an besonderen Orten vorgefundene Klänge. Ende der 1980er-Jahre entwickelte er die Musiksoftware KANDINSKY MUSIC PAINTER. Clemens von Reusner komponierte Auftragswerke für den Rundfunk und Festivals mit zahlreiche internationalen Aufführungen seiner Werke in Asien, Europa, Nord- und Südamerika. Er erhielt Einladungen zu den Weltmusiktagen für Neue Musik 2011 in Zagreb, 2017 in Vancouver, 2019 in Tallin. Clemens von Reusner ist Mitglied des Deutschen Komponistenverbandes (DKV) und der Gesellschaft für Neue Musik (GNM). Von 2010 bis 2013 war er Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für elektroakustische Musik (DEGEM). Hinzu kamen kuratorische Tätigkeiten und solche als Jurymitglied bei internationalen Festivals für elektroakustische Musik.
www.cvr-net.de