Über 150 Jahre nach ihrer Ausrottung sind Wölfe in Deutschland zurück. Kaum ein anderes Tier ist in der europäischen Kulturgeschichte und anderen Kulturräumen gleichermaßen Projektionsfläche für menschliche Sehnsüchte und Ängste wie der Wolf: Als grenzüberschreitender Nomade, gefährliches Raubtier, Forschungsobjekt, soziales Rudeltier oder als Charakter in Märchen und Mythen ist er Angstfigur und Sinnstifter zugleich. Das MARKK nimmt die große mediale Aufmerksamkeit und gesellschaftliche Polarisierung, die das Tier umgibt zum Anlass, den Beziehungen zwischen Wolf und Mensch eine Ausstellung zu widmen. Von Wölfen und Menschen greift die aktuellen Diskurse aus Populärkultur, Kunst und Wissenschaft auf und gibt Einblick in Wolfsvorstellungen in verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten.
Trotz systematischer Ausrottung seit dem 19. Jahrhundert lebte der Wolf in Bildern und Vorstellungen der Kunst und Kultur fort. Diese beeinflussen bis heute unsere widersprüchlichen Reaktionen auf die Wiederkehr der Wölfe. Gleichzeitig kehren Wölfe in eine veränderte Welt zurück, in der Mensch-Tier-Verhältnisse neu bewertet werden. Obwohl die Anzahl der Wölfe in Deutschland mit geschätzten 70 Rudeln überschaubar ist, entladen sich an ihnen gesellschaftliche Debatten unserer Zeit: Es geht um Artenschutz oder Erhalt der Weidewirtschaft, Konflikte zwischen Stadt und Land, um den Umgang mit dem Anderen, das von außen kommt. Es geht um Vorherrschaft oder gleichberechtigtes Zusammenleben, Ausschluss oder Integration. Der Wolf beschäftigt den Bund und die EU, Rumänien wählte Anfang 2019 für seine EU-Ratspräsidentschaft sogar einen springenden Wolf als Logo. In China und der benachbarten Mongolei wiederum wurde der Roman Der Zorn der Wölfe des Schriftstellers Jiang Rong zu einem der meistverkauften Bestseller überhaupt.
Das MARKK schöpft in dieser Ausstellung aus dem Potential seiner europäischen Sammlungen, um die darin vorhandenen Spuren von Wölfen mit solchen aus anderen Kulturräumen in Geschichte und Gegenwart in Beziehung zu setzen. Dabei treten Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Umgang mit dem Wolf und seinem Bedeutungsgehalt zutage. Gleichzeitig schöpft die Ausstellung aus neuesten Forschungserkenntnissen der Kultur- und Sozialanthropologie im Rahmen der erstarkenden Human-Animal Studies. Dieses interdisziplinäre Forschungsfeld widmet sich den komplexen Beziehungen zwischen Menschen und Tieren anhand der Lehren aus Soziologie, Psychologie, Philosophie, Erziehungswissenschaft, Geschichts- und Kulturwissenschaft.
Die Ausstellung dokumentiert einerseits den Umgang mit dem zurückgekehrten Wolf, dessen Ausbreitung und Verhalten anhand verschiedener wissenschaftlicher Wolfsbeobachtungsmethoden wie Wildtierkameras und Fotofallen überwacht wird. Andererseits veranschaulicht sie, wie der Wolf in verschiedenen räumlichen und zeitlichen Kontexten in diversen Medien wie Märchenbüchern, Horrorfilmen, Wolfstänzen oder politischen Plakaten und in der Werbung imaginiert und repräsentiert wurde. Trotz ihrer thematischen Verankerung im europäischen Raum ist die Ausstellung einem globalen Ansatz verpflichtet. Sie befasst sich mit dem Symbolcharakter des Wolfes in jenen Gebieten der Welt, in denen er lebte oder noch lebt und in deren Mythen er eine Rolle spielt, beispielsweise in nordamerikanischen Wolfsmasken der Nuu-chah-Nulth, europäischen Talismanen oder japanischen Ornamenten (Netsuke), die als Teil des Kimonos getragen wurden. Auch mit der Verwertung politischer und materieller Natur befasst sich das Projekt, sowie mit dem Niederschlag des Themas in künstlerischen Werken, die den Blick auf und das Wissen über das Tier auf manchmal überraschende Weise erweitern. Vertreten sind u.a. Werke von Timm Ulrichs, Corinna Korth, Jazmina Cininas, Rainer Opolka, Jussi TwoSeven, Marika Swan, Hjalmer Wenstob, Marc Chagall und Lukas Cranach d. Ä..
Von Wölfen und Menschen strebt jedoch keinen enzyklopädischen Wissensparcours zum Thema Wolf an. Die Ausstellung setzt Akzente und hebt jene Aspekte hervor, die sich markant veranschaulichen lassen. Dabei mischt sich Alltägliches mit Besonderem, große Kunst mit naturwissenschaftlichem Inventar, zeremonielle Ausstattung mit Populärkultur oder politische Ikonographie mit Märchenfiguren und fügt sich zu einem transdisziplinären Panorama der Wolfsbetrachtung zusammen.
Die Ausstellung erhielt viele Anregungen aus dem Forschungsprojekt Wölfe: Wissen und Praxis der Universität Zürich, dessen Leiter, Prof. Dr. Bernhard Tschofen und seine Projektmitarbeiter*innen Elisa Frank und Nikolaus Heinzer, an der Ausstellung als wissenschaftlicher Beirat mitwirkten. Prof. Dr. Kerstin Poehls vom Institut für Kulturanthropologie der Universität Hamburg unterstützte das Projekt ebenfalls als Mitglied des Beirats und trug mit ihren Studierenden im Zuge eines Seminars dazu bei, aktuelle Perspektiven aus dem unmittelbaren Umfeld Hamburgs filmisch in die Ausstellung einfließen zu lassen. Von Wölfen und Menschen knüpft an ein hochaktuelles Diskursfeld an und kombiniert es mit einem interdisziplinären, bildwissenschaftlichen Ansatz.
Die Ausstellung wird Gefördert durch die Behörde für Kultur und Medien Hamburg und die Freunde des Museums am Rothenbaum e.V.