Was die altruistischen Bishnoi vom indischen Subkontinent mit der egozentrischen Königin Marie Antoinette gemeinsam haben? Sie sind Gegenstand des Werkes von Konrad Ross. Der Künstler hinterfragt die vermeintlichen Gewissheiten von Tatsache oder Gerücht, Zitat oder Plagiat, Wiederholung oder Entwicklung. Konrad Ross konzentriert sich in seiner Kunst auf die Erforschung von Identität, von Ritualen und des physischen Seins. Mit analytischem Können und beeindruckendem Talent deckt er Grenzen auf: die Grenzen der Körperlichkeit und von Perspektiven. Er offenbart sie in faszinierend surrealen Motiven als Zerrbilder, im Unperfekten und der Patina, die zugleich den Prozess der Kunstentstehung offenbaren. Ross fordert den Betrachter auf, seine Komfortzone zu verlassen und auf eine vielschichtige Reise an die Grenzen seiner eigenen Körperlichkeit, Überzeugungen und Werte zu gehen. Aber, liebenswürdig wie der Mensch Konrad Ross ist, bleibt es eine Einladung, kein Zwang. Der Betrachter muss selbst entscheiden, ob und wie weit er sich auf eine Entdeckungsreise begibt, die zu nervenaufreibenden Abgründen führen mag. Indem der Künstler sich selbst Verwandlungsprozessen und Ritualen unterzieht, offenbart er vorfühlend das ganze Spektrum von Menschlichkeit. Und so umfassen seine Werke die breite Vielfalt menschlicher Ausdrucksformen von Sprache über Bild bis Emotion und performativem Akt. „Wenn meine Arbeit sich in wenigen Worten oder Sätzen beschreiben ließe, hätte ich als Künstler versagt“, erläutert Konrad Ross die Komplexität seines Werkes.
Abgründe und heitere Großzügigkeit sind auch die Ausgangspunkte von Konrad Ross‘ Frühlingsausstellung, die im Februar erstmals in Hamburg zu sehen ist, bevor sie weiter nach Venedig zum Giudecca Art District GAD reist. „Let Them Eat Cake“ zeigt Werke wie “Point”, “Power”, “The End” oder “Vanity”. Der Ausstellungstitel ist Anspielung auf den Marie Antoinette zugesprochenen zynischen Ratschlag an das hungernde Volk. Und er führt mitten in den Kosmos von Ross und zur Frage nach Authentizität. Ist das Zitat historisch verbürgt oder doch nur wohlfeiles Gerücht? Zugleich blättert der Titel die europäische Historie und Kunstgeschichte auf, die Ross meisterhaft in Sujet und Technik zitiert und zugleich neue Welten wie etwa die der Baumhüter Bishnoi offenbart. Virtuos malt er im Stil großer Meister oder ursprünglicher Kulturen. Er zitiert Künstler durch alle Epochen, variiert Techniken und Stile, etwa in seinen Portraits. Faszinierend ist seine technische Bandbreite, die Öl auf Leinwand, Kohle auf Papier und Acrylfarbe umfasst, er verwendet aber auch Sprühfarben, das Mittel der Installation und Performance und eigens für seine Kunst gebauten Möbeln.
Ross ordnet sich ganz den Notwendigkeiten seiner Kunst unter: „Ich tue genau das und verwende genau die Technik, die das Werk braucht“, erläutert der Künstler. Immer wieder ist er Teil seiner Werke: „Vanity“ zeigt einen Marmor-Frauenakt, der in Konrad Ross` starken Armen regelrecht hineingeschmolzen ist. Der Künstler selbst entsteigt als Portrait mit ernstem Gesicht und in ein biblisches Gewand gekleidet aus einem monochromen Bild der Moderne. Immer wieder ist er Teil des Werkes, als Portrait, als Akt, er zeichnet mit der linken und rechten Hand seine Hände und Füße direkt vom Körper. Selbstdarstellung aus Selbstverliebtheit? Im Gegenteil, reiner Pragmatismus, denn Ross ist immer als Modell verfügbar. Zugleich begreift er sich durch die ständige Wiederholung etwa in den Dutzenden Ross-Armen oder -Köpfen in „Point“, „Power“ und „The End“ als vollkommen austauschbar. Und doch gibt es eine übergeordnete Ebene: Er versteht sich selbst als Platzhalter für den Zuschauer und Betrachter, jeder kann sich an seine Stelle in der Kunst setzen. Zugleich sind Füße und Hände genauso individuell wie das Gesicht, anders als dieses sind sie aber ehrlichunverstellt und nicht Teil einer Inszenierung der Generation Selfie.
Konrad Ross ist ein Suchender auf Forschungsreise zu seinem Platz in der Welt. Seine Kunst ist ein Zwischenbericht über den aktuellen Zwischenstand, niemals belehrend, sondern immer eine Einladung. Seine Fragen sind die großen Menschheitsfragen: Wer bin ich, wo komme ich her, was ist meine Aufgabe? Auch als Mensch tut Konrad Ross genau das, was er als notwendig erachtet, lebt beispielsweise aus Überzeugung vegan. Andere mögen ihm folgen, in seine Kunst und seine Erkenntnisse. Immer ist da eine Prise Humor, auch wenn die Menschheit an sich in seinen Augen nicht lernfähig ist. Der Einzelne mag sich entwickeln, doch als Ganzes sind wir verdammt, die Geschichte immer zu wiederholen. Und so ist auch das Cinemascope-große „The End“ kein wirkliches Ende, sondern vielmehr der Cliffhanger zu einer neuen Volte der Geschichte.