Johanna
Hirtin, Heilige, Hexe, Heldin, Aktivistin des Mittelalters, Tochter und Soldatin, die in einen schon verloren geglaubten 100-jährigen Krieg zieht – Johanna von Orleans ist vieles. 1431 wird sie mit 19 Jahren in einem kirchlichen Verfahren zum Tode verurteilt und öffentlich verbrannt, hunderte Jahre später wiederum vom Papst heiliggesprochen. In zahlreichen Variationen und Adaptionen wurde ihr Mythos seitdem politisch aufgeladen: Für die einen ist sie Symbol eines mutigen Idealismus, für die anderen Zeugnis eines fatalen Fanatismus. In beiden Fällen wird Johanna immer wieder als Bild für all jene jungen Frauen herangezogen, die in den letzten Jahrzehnten scheinbar im Alleingang den Status Quo herausgefordert haben, sei es nun den des Patriarchats, der ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse oder der Klimapolitik.
In Friedrich Schillers „romantischer Tragödie“ führt Johanna das französische Heer gegen England durch ihren festen Glauben – und mit Gewalt – schließlich zum Sieg. Während bei Schiller Johanna ihr Handeln mit Gott oder der heiligen Jungfrau Maria legitimiert, sieht Leonie Böhm in Johannas Mythos eine Frau, die sich zwischen eigenen Visionen und fremden Projektionen ständig transformiert, immer auf der Suche nach Selbstbestimmung und in der Hoffnung auf Veränderung. Kann ich mich unabhängig vom Urteil anderer machen, ohne mich aus meinem sozialen Gefüge zu lösen? Kann ich meinem eigenen Urteil bedingungslos vertrauen, ohne es damit in Dogmen zu verwandeln? Vor allem aber: Wofür lohnt es sich zu kämpfen und was sind meine Waffen?
Leonie Böhm ist bekannt dafür, kanonisierte Texte auf die in ihnen wohnenden Gedanken und Gefühle zu konzentrieren. Klassiker sind belastbar. Man kann sie zerstückeln, kondensieren und anders kompilieren. Sich immer wieder neu zu ihnen ins Verhältnis setzen und ihre Figuren auf unser Hier und Jetzt hin befragen. Im Fokus steht dabei stets der Anspruch, diese in ihren Gedanken und Gefühlen ernst zu nehmen und sie in ihren Handlungen zu verstehen. Leonie Böhms Perspektive auf den antiken Mythos »Medea*« wurde 2021 zum Theatertreffen eingeladen. Mit »Die Räuberinnen« haben sie und ihr Team sich schon einmal dem Freiheitsideal von Schiller gewidmet. Eine ihrer ersten Regiearbeiten, »Kasimir und Karoline«, hatte 2015 im MalerSaal Premiere. Mit »Johanna« kehrt Leonie Böhm nun ans SchauSpielHaus zurück und begibt sich gemeinsam mit dem Ensemble und der Musikerin Fritzi Ernst auf die Suche nach neuen Glaubenssätzen, die uns helfen, alte Systeme zu durchbrechen und über uns selbst und unsere bisherigen Gewissheiten hinauszuwachsen. Anstatt „falsche“ Ideale auszustellen, macht Leonie Böhm in der Tragödie Elemente aus, die Kraft geben, etwas zugunsten einer sozialen Utopie zu riskieren. Gemeinsam mit anderen. Und einer total komplizierten und ambivalenten Gegenwart zum Trotz.
Motiv: Rocket & Wink